Samstag, 5. Oktober 2019

In einem weißen Haus am Wasser






       In einem weißen Haus am Wasser
            
                    (aus den Kindertagen meiner Mutter)


Das ist nicht Goslar - nein, es ist Nordhausen:
Ein Kind marschiert von seines Hauses Schwelle
hinweg, folgt einer flotten Blaskapelle.
Hör’ nur dies tolle Schmettern, hör’ dies’ Brausen!

Und schau mal, wie die Annie lustig rennt.
Zu Hause hocken, ach, ihr wär’s zu dumm.
Viel kesser klingt das Tschingderassabum;
gewiss - ein musikalisches Talent!

Bang sind die Eltern nun, sind immer bänger:
Ist sie verschwunden? Ja, das wär’ noch krasser!
Verführten sie die lust’gen Rattenfänger?

Doch ist sie klug; die Annie sagt zum Glück:
“Ich wohn’ in einem weißen Haus am Wasser”
und eine Dame bringt sie rasch zurück.


                                                    Rolf-Peter Wille
                                                           (2012)

                                                      

Raoul Dufy: Die Kapelle, 1949 

                           
                           

Anmerkung: Meiner Mutter, Annemarie Wille, zum 85. Geburtstag




In meiner alten Dachmansarde



 

          In meiner alten Dachmansarde


Entflogen sind mir meine Kindersagen.
Wie aus der Ferne lockt mich noch ihr Schimmer.
Gern flög ich heim in das Mansardenzimmer
aus jenen lieben, lang verflossnen Tagen.

Doch nicht verzagt! Im Traum kann ich’s erjagen.
Schon seh ich heimlich wie in einem Flimmer
vertraute Schemen. Schau, dort steht noch immer
in jener Kammer unser Kinderwagen!

Und leise, leise lüpfe ich die Decke... —
Da liegt im Bett ein fremder Mann
und starrt mich unverfroren an.

„Verzeihen Sie, dass ich Sie wecke!
Ich suchte nur ein Kind,  verzeih!“
Fort, fort…; der Traum ist schon vorbei.


                                                                                      Rolf-Peter Wille

                                                                                             (2022) 




In Musen wandele und Maden (orphische Sonette)

 

                                    In Musen wandele und Maden

                                               (orphische Sonette)

                

 

                 1.  Eurydikes Dreiklang


Hinab! Die Leier fiel ins Reich der Schatten.
Nur aus der Tiefe kann er sie noch hören.
Die Nymphe, um den Hades zu betören,
sinkt in die Unterwelt für ihren Gatten.

Mit nackten Füßen, die nie Strümpfe hatten,
streift sie durch Sümpfe, huscht durch dichte Föhren.
Schon hört sie aus den Schlünden wildes Röhren,
Gebrüll vom Höllenhund, dem nimmersatten.

Erbebend naht sie sich dem Ungeheuer.
Und seine Zähne mahlen Orpheus‘ Leier,
und, ach, sein zweiter Rachen fauchet Feuer.

Der dritte lispelt: „Lüfte deinen Schleier!
Gib mir, oh süße Nymphe, einen Kuss!“
Drei Küsse und – Musik wird Zerberus.


 

                2.  Bardisches Lament


Hab ich wie Herkules nicht hart gerungen
mit zarten Reimen und mit Assonanzen?
Hieb ich die Hydra nicht entzwei mit Lanzen,
riss nicht aus Schlangenhäuptern ihre Zungen,

die lüstern sangen und – eh sie verklungen 
verflocht ich ihr Geflüster nicht zu Stanzen
und formte mein Geflecht zum runden Ganzen?
Hab ich‘s galant wie Orpheus nicht besungen?

Doch ach, wer lauscht noch lyrischen Gesängen?
Die Nymphe schwand; – mit adlerscharfen Fängen
belauern mich, den Leiermann, Mänaden!

Und bald, ach bald, so raunt es die Sibylle ,
erklingt statt Liedern aus der Stille
nur noch das Zirpen der Zikaden.



              3.  Orpheus vollendet


Dich, Muse, suche ich auf meinen Pfaden
und wandele wie Orpheus mit Figuren
von Nymphen und gar neckischer Lemuren;
die führen mich zu lieblichen Gestaden.

Doch wehe! Statt der reizenden Najaden
erwarten mich am Ufer Kreaturen
mit Kröpfen und bacchantischen Konturen
dämonischer Geschöpfe, ach – Mänaden!

Ein Sprung in das immense Meer: – „Ulysses,
sei du hinfort mein listiger Begleiter!“
Dies liebliche Sonett? Sing ich es weiter?

Das sprang in den Mänadenschlund. – „So friss es!“
  Die Muse weint. Ich habe sie verschwendet.
  Doch Orpheus hat sein Lied bereits vollendet.



                   4.   Musenschwärmerei
                 
con passione

Mit ihr allein schwärmt' ich auf meinen Pfaden;
denn sie und ich, wir wandeln Arm in Arm.
Verwandelt jagt die Muse mich als Schwarm
süchtiger Fliegen. Wehe! – Ihre Maden

durchkriechen mein Gedicht und sie besaugen
den Vers in seinem Mark. Die Brut will schlüpfen.
Schon spür ich, wie sie krabbeln. Und sie hüpfen
als Fliegen mir aus Nase, Mund und Augen.

Bekleckert jetzt..., beleckt mir diese Zeilen,
die ich in weicher Stimme rezitiere,
und klebt und saugt am süßen Reim bisweilen,
dass meine spitze Feder euch fixiere.

Oh lausch! – Schwebt nicht, so licht, so bunt,
ein Musenschwarm aus meinem Mund?

  

                                                                               Rolf-Peter Wille

                                                                                    (2023) 












Vorgänger Version von "Bardisches Lament":

 



                  Stummes Lament
           eines heiteren Dichters



Hab ich, ein Herkules, nicht hart gerungen
mit Vers und Reimen? Ei, jawohl! Ich habe.
Jetzt scheint mir gar  ein Bein bereits im Grabe 
da hätt ich stumme Liedchen mir gesungen.

Der Hydra hab ich Häupter abgesäbelt,
gar manchen Hühnerstall befreit vom Mist,
verdreht, wie diesen hier, den Satz mit List
und seinen Bau, ein Hüne, ausgehebelt.

Geblieben ist ein tauber Nachgeschmack,
das stumme Echo nie erlauschter Stanzen.
Zieh ich noch stummere aus meinem Ranzen,
Kaninchenleichen für den Selbstverlag?

Verblühter Barde bleibe heiter
und dichte hübsch im Grabe weiter!





In seinem Tempel



                                  In seinem Tempel


Dem Kritikós, dem willst Du dienen?  Stille!
Denn hier betrittst Du seinen hehren Tempel.
Nicht mit der Feder sondern mit dem Stempel
Sollst Du beten. Dieses ist sein Wille.

Sonette willst Du dichten?  Künstlergrille!
Dem Gotte schmeckt er nicht, Dein leerer Krempel.
Verkünde als didaktisches Exempel
Uns die Kritik der dichterischen Stille.

Nun lächelt er sein sanftes Marmorlächeln,
Ein wenig kritisch, aber süffisant.
Du bist gewaschen jetzt, ein alter Hase.

Vergiss nicht  manchmal kühlen Wind zu fächeln
Von Aristoteles und auch von Kant:
Die Düfte schmeicheln seiner kalten Nase.


                                  Rolf-PeterWille
                                          (2004)

                                  
                                                               Veritas










Freitag, 4. Oktober 2019

Das Kakerlakenei




           Das Kakerlakenei


Im Zwielicht zuckt das zappelnde Insekt.
Wie ein Roboter schwenkt es die Antennen
Nach rechts, nach links, nach rechts.  Schon will es rennen
Im Zickzack:  So hat’s meine Hand geneckt.

Jedoch die Hand, die alte Spinne, fasst
Die Kakerlake.  In dem schwarzen Kerker
Schabt sie, knistert sie wie ein Berserker.
Ach, die Hand – befreit sich von der Last.

Ihr Ei, das wirft sie ab.  Jetzt kann sie laufen.
Nun, das ist schäbig, doch mir einerlei.
Dann darf sich meine Hand einmal verschnaufen

Von dieser eklen Schabenknisterei.
Du siehst:  Es läßt die Freiheit sich erkaufen
Mit einem einz’gen Kakerlakenei.


                                                Rolf-PeterWille
                                                         (2002)

                                
        

         Rolf-Peter Wille: The Mother of Roaches, 1994
 
                                     ___

                                        die kakerlake
                             kann meiner hand entkommen -
                                    ein ei bleibt zurück
                            ___






Donnerstag, 3. Oktober 2019

Kampf der Rüssel




                                     Kampf der Rüssel


Wie lieblich schmeckt das Blut der Elefanten!
Welch süßer Blütensaft für eine Mücke!
D’rum sticht sie mit der wohlbekannten Tücke
Sowohl die plumpen als auch die galanten.

Zwar schlägt der Elefant mit dem markanten,
Gewandten Nasenrüssel manche Lücke
Gewaltig in die Luft, daß es ihm glücke,
Den Mückenflug zu hemmen, den rasanten.

Doch leider muß ihm dieses meist mißlingen,
Denn Mücken sind ja oft im allgemeinen
Zu klein geraten, und vor allen Dingen:

Wie will ein solcher Kampf gerecht erscheinen?
Es kann kein Elefantenrüssel ringen
Mit einem Mückenrüssel, diesem feinen.


  
        Rolf-Peter Wille
                 (2002)

         
                                                                     

Rolf-Peter Wille: Cover-Design für Notenausgabe, 1995










Die Kathedrale




                   Die Kathedrale


Noch glüht der Himmel rot im Feuerscheine.
Die Glocke schmolz, zersplittert sind die Sparren.
Wie trauernd ragen, Mahnmal des Bizarren,
vom Gotteshaus nurmehr die Trümmersteine.

Doch schau: Schon sieht man Fürsten und Gemeine,
die spannen sich wie Ochsen vor die Karren.
Sie tanzen, singen, die verzückten Narren,
und ziehn gewaltiges Gestein zum Schreine.

Dort strebt empor in kühnen Bogenrippen
der Kathedrale mächtiges Gewölbe.
Es recken sich die Säulenkapitelle.

Die Jungfrau blickt hinauf ins Lichte, Helle.
Wie glänzt ihr Strahlenkranz, der goldengelbe!
Und wonnig lächeln ihre Rosenlippen.


                                                       Rolf-Peter Wille
                                                                (2014)



           
                        Chartres Kathedrale 
            

Anmerkung: : "Karrenkult" (cult of carts):  1145 spannten sich in Chartres singende Bürger und Edelleute 
wie Ochsen vor die Karren, um Steine auf die Baustelle der Kathedrale zu schleppen.