Sonntag, 6. Oktober 2019

Der Frühling zwitschert sich durch das Gedränge



Der Frühling zwitschert sich durch das Gedränge

Wie lustig ist’s, im Freien zu spazieren!
Der Frühling zwitschert sich durch die Alleen;
verzückt darf ich in grünem Kleide gehen,
wo sich im Grünen Freunde amüsieren.
Wie lästig, bei der Ampel zu verschmachten!
Matronen zwängen sich durch das Gedränge;
erstickt soll ich verrotten in der Enge,
wo sich Rivalen stolz bei Rot verachten.
Doch wart – wer zwingt mich eigentlich zum Stehen?
Seit wann bin ich nicht Ich, mein eigner Herr?
Gehorcht ein Mann der Zeit und ihren Dieben,
dann kann er warten, kann er Däumchen drehen.
Drum auf! Befrei dich stracks aus dem Gezerr!
Schreit jemand Stopp? Schreit jemand Stehngeblieben?

                                                            Rolf-Peter Wille
                                                                    (2009)
      

Ernst Ludwig Kirchner: Straßenszene, 1925


Anmerkung: aus meinem Rhetorikum Grüne Figur bei Rot. Mein Sonett ist eine Variation des Satzes "Ich trug ein grünes Hemd und ging bei Rot über die Straße".
                                                                     







Fußpilz




                         Fußpilz


Hier liegt er, fiebernd, fast bereits im Koma,
Und eine leise Wolke fauler Gase
Umwabert giftig launisch seine Nase
Mit einem süßlich käsigen Aroma.

Da plötzlich reckt sich seine Hand zum Fuß,
Durchzittert seine Zehen jähes Zucken.
Sich Kratzen schmeckt dem zähen Jucken
Wie eine pralle Frucht dem Tantalus.

Und dann mit scharfen Krallen wie von Katzen
Zerschabt er sich die Schuppen unter Johlen.
Er stolpert fort und jault noch wie im Wahn.

Und auch sein Maul, das schneidet dumme Fratzen.
Was uns verbleibt von den verschwitzten Sohlen,
Das ist zerrieb’ner Fungus Parmesan.



                                                  Rolf-PeterWille
                                                               (2002)
                                       
           

Jacques Callot: Coviello, 1622 
   


















































Gipfel der Erkenntnis




          
               Gipfel der Erkenntnis 


Die Stille und die Einsamkeit zu finden,
erklomm ich schwacher Wille einen Berg,
um mich als Ameise, als winzger Zwerg,
mühsam auf seinen Gipfelpunkt zu winden.

Verdammt! Was nützt es mir, mich abzuschinden?
Hier oben harrt bereits ein altes Weib
und starrt mich an; nur so zum Zeitvertreib.
Avanti, altes Weib! Sollst rasch verschwinden.

Da lächelt sie und lispelt leis "nanu?"
Wie? Meine alte Schülerin? So lieb!
Allein in lichter Höh? "Oh Lisa, Du?"

Dies ist Magie! Hat Alter kein Gewicht?
Die Fünfzig flüchtete. Mein Auge schrieb
ihr eine zarte Zwanzig ins Gesicht.


                                         Rolf-PeterWille
                                                (2019)


                           

Paul Klee: Der Niesen - Ad Parnassum, 1932












Samstag, 5. Oktober 2019

Die Glatze



                         Die Glatze


Sie ringt verschwiegen, still, auf lichten Höhen.
Nicht mit dem Schwert, nein mit dem edlen Glanze
Ihrer Erscheinung geht sie nun auf’s Ganze
Und will die schütt’ren Haare ihm verwehen.

Schon schimmert seine Kopfhaut rosa, nackt.
Schon ist sie durch.  Jetzt bleckt sie ihre Zähne.
Pro forma zeigt sich noch manch dünne Strähne
Darunter glänzt es fettig und gelackt.

Jedoch das soll ihn weiter nicht bewegen,
Denn im Konzerte oder auch im Zoo
Da ist sein steifer Hut ein wahrer Segen.

Nur aus dem Spiegel in dem stillen Klo
Da strahlt es ihm gar wunderlich entgegen
Ein eleganter, zarter Babypo.



                                                    Rolf-PeterWille
                                                            (2002)

                            

George Grosz: Charakterkopf, 1921











Gott ist eine Seifenblase


 

           Gott ist eine Seifenblase

              (ein zerplatztes Sonett)

 


Zum Schlummern, auf den weichen  Rasen
werf ich die alten, wunden Glieder.
Da weht mir um die Augenlider
ein Windzug bunte Seifenblasen.

Verweh, du Spuk! Dich greif ich nie:
Dein Gott ist nur ein kleines Kind.
Zu fein treibt seinen Spott der Wind
mit dir, du Seifengalaxie
von Bläschen, die an meinen Tatzen
so leicht und nonchalant zerplatzen.

Doch siehe, welche frische Süße
weht da in meine alten Füße?
Schon springen sie wie flinke Hasen
und tanzen mit den Seifenblasen.

Wie wunderbar! Wie sonderlich:
Das kleine Kindlein —, …das bin ich.


                                    Rolf-Peter Wille

                                                                                   (2021) 




Anmerkung: Der spöttische Wind hat mir hier die Seifenblasen über die zweite Sonett-Strophe geweht. Da konnt´ ich nichts machen. Ein Sonett ist es nun leider nicht mehr. Höchstens noch eine Bolla di Sapone...


Ein Hauch von Glück


  

                  Ein Hauch von Glück

             (Dank an eine poetische Pistazienschenkerin)


Erjagen wollten sie das Glück in Querum,
im Harzgebirg, fern, auf verharschtem Schnee –
es schmolz dahin. Noch glimmt ein leises Weh
aus der Erinnerungen dunklem Serum.

Noch jagt im Traume nachts die Polizei
sie auf des Pepperstiegs vereisten Gleisen.
Erwach! Welch Truggebild verflossner Reisen
neckt einen Greis und seine Poesei?

Nun schlummern sie daheim und reichlich lange.
Man gratuliert zum Neuen Jahr der Schlange
im Inselreich, im grünen, in den Tropen.

Da weht ein Hauch der fernen Grazien
das Glück, das holde – Verse aus Europen.
Ein leiser Duft wie von Pistazien.


                                                Rolf-Peter Wille
                                                        (2013)

          

             Gustave Moreau: Europa und der Stier, ~1869 





















Anmerkung: nach einer Deutschlandreise; Querum und Pepperstieg: bei Braunschweig; "Inselreich" = Taiwan





Haus der Nachttiere

 



                 Haus der Nachttiere 


Welch schwarzes Nocturama  nackte Hölle
erstarrten Felsgesteins! Aus seinen Ritzen
siehst du der Sünder arme Seelen flitzen
als weiße Mäuse durch die Kerkerzelle.

Und wie gebannt starrst du ins Finsterhelle,
in grause Nacht durchzuckt von grellen Blitzen.
Da schau, ein Mäuslein bleibt geblendet sitzen,
erstarrt! Dort klebt es zitternd auf der Stelle.

Und in der Höhe hocken starre Eulen
in Felsengrotten, Göttinnen der Rache,
wie griechische Skulpturen, Marmorsäulen.

Mit Argusaugen halten sie die Wache
in tiefer Stille Hölle ohne Heulen.
Am Fels gerinnt das Blut zu einer Lache.

 

                                                                    Rolf-Peter Wille 

                                                                             (2021)